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Einleitung
Mit der Digitalisierung von Musik und der Verbreitung von internetfähigen Personal Computern sieht sich die Musikindustrie einer neuen Situation gegenüber. Die neue Medienkonstellation betrifft sowohl die Bereiche der Produktform, der Nutzung und der Rechteverwertung, eröffnet aber auch neue Möglichkeiten für Distribution und Marketing. Musik kann ohne klanglichen Qualitätsverlust kopiert und auf eigene Träger gebrannt werden. Der Computer wird zum Abspiel-, Informations-, Bezugs- und Kopiergerät. Über Tauschbörsen wie Kazaa, Edonkey und Gnutella wird ein weltweiter privater Dateitransfer mit urheberrechtlich geschütztem Material in großem Ausmaß möglich. Der weltweite Umsatz mit Tonträgern war nach den expandierenden 90er Jahren ab 1999 rückläufig, im Jahre 2002 fiel er im Vergleich zum Vorjahr um 7,3%[1], im Jahre 2003 erneut um 7,6%[2]. In Deutschland, dem weltweit fünftgrößten nationalen Tonträgermarkt, sanken die Verkaufszahlen im Jahr 2003 um 19,8%, im Vergleich zum Umsatz von 1999 summiert sich der Rückgang auf ein Drittel.[3] Gleichzeitig überstieg die Anzahl von mit Musik bespielten CD-Rohlingen seit 2001 die Menge der verkauften Musik-CDs - im Jahre 2003 sogar um mehr als das Doppelte (325 Millionen gegenüber 133,6 Millionen Stück)[4]. Für den deutschen Verband der Phonographischen Industrie ist die Sache klar: Die Krise der Musikindustrie sei direkt auf den Tausch von Musik im Internet und das private Brennen von CDs zurückzuführen[5]. Das Internet entstand ursprünglich für eine enge wissenschaftliche Nutzergruppe, war technisch für einen unregulierten Datentransfer angelegt und wurde kulturell vom Hacker-Ethos und der Idee des frei zugänglichen Quellcodes bestimmt. Für eine kommerzielle Nutzung, wie sie im Laufe der 90er Jahre nach der Verbreitung des Netzes im Zuge der Euphorie um das World Wide Web und der rasanten technologischen Entwicklung angestrebt wurde, bereiteten die dezentrale und transnationale Struktur sowie die offenen Standard-Protokolle Schwierigkeiten. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in den Computernetzen eine Kultur, die anhand der technischen Möglichkeiten eigene Interaktionsformen und Wertsysteme ausbildete, die auch im Zusammenhang mit der Musikindustrie relevant sind. Die Selbstverständlichkeit, mit der im Internet mit kostenlosen digitalen Kopien und Tauschbörsen umgegangen wird, gründet zum Teil im Hacker-Ethos und der Quasi-Anonymität der Computernetze, zum Teil in einem der großen Mythen der Popkultur, dem des Widerstands und der Ablehnung von Kommerzialisierung und Vereinnahmung. Der Tonträgermarkt ist durch Konzentrationsprozesse und z.T. spektakuläre Übernahmen gekennzeichnet und wird seit den 50er Jahren von einigen wenigen global organisierten Unternehmen der Medien- und Elektronikbranche, den sogenannten Major Labels (oder Majors), oligopolistisch dominiert. Die derzeit fünf Majors (Bertelsmann Music Group, Sony Music, Warner Music, EMI, Universal Music) vereinen etwa drei Viertel der weltweiten Tonträgerverkäufe[6], das restliche Viertel wird von kleinen Plattenfirmen, den Independent Labels (oder Independents/Indies) eingenommen. Die Unterscheidungslinie wird primär anhand des Vorhandenseins eines firmeneigenen Vertriebsnetzes gezogen, aber auch hinsichtlich der einfachen Größe, der Entscheidungen aufgrund von ästhetischen oder kommerziellen Aspekten und der Firmenkultur. Während die Indies vor allem spezialisierte Szenen bedienen und neue Künstler aufbauen, profitieren die schwerfälligen Majorlabels von den Innovationen und Marktsegmentierungen, indem sie erfolgreiche Künstler und Konzepte übernehmen. Independent Labels haben häufig den Ruf eines authentischen Gegenmodells, bei dem die Künstler fair am Gewinn beteiligt werden. Die Literatur ist sich weitgehend darüber einig, dass das Internet die Strukturen der Musikindustrie verändern wird. Dabei wird der Fokus vor allem auf die Major Labels gelegt. Die Einschätzungen ziehen sich von apokalyptischen Visionen eines Endes der bisherigen Musikindustrie bis zu geringfügigen Schwerpunktverlagerungen in den Aufgabenbereichen der beteiligten Akteure. Für die spezifischen Problemfelder der Indies hingegen - die Distribution und die geringen Mittel für Werbung und Medienpräsenz - könnte das Internet jedoch entscheidende Vorteile bieten. Die derzeitigen Umstrukturierungen verweisen nicht nur auf einen technologischen Wandel, sondern auch auf die generellen soziokulturellen Veränderungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, von der die Internet-Gruppierungen einerseits Erscheinungsformen sind und zu der die neuen Technologien andererseits beitragen. In dieser Arbeit soll der Zusammenhang von Independent Labels und Internet untersucht werden, indem ihre kulturellen Formationen und deren Wertvorstellungen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte verfolgt und schließlich miteinander in Beziehung gesetzt werden. Es soll argumentiert werden, dass die Computernetze maßgeblich durch ihre Nutzerkultur gekennzeichnet und strukturiert sind, ebenso wie sich die spezifischen Merkmale von Independent Labels von ihrer Verortung in spezialisierten Szenen und der Orientierung an einer Independent-Philosophie ableiten lassen. Daher wird neben den technologischen und ökonomischen Rahmenbedingungen insbesondere eine Charakterisierung von Netzkultur und Independent-Formation entworfen, um aus ihren Konflikten und Parallelen eine Einschätzung der Folgen der neuen Mediensituation für unabhängige Labels zu entwickeln. Im ersten Teil der Arbeit wird zunächst eine Einführung in die Strukturen und Geschichte der Musikindustrie und in das Urheberrecht gegeben. Da Independent Labels und ihre Philosophie in der Literatur noch wenig zusammenfassend beleuchtet wurden, sollen sie vor diesem Hintergrund ausführlich dargestellt werden (Kapitel 2). Der Komplex Internet wird am Anfang des zweiten Teils mit seiner Technologiegeschichte eröffnet. Daran anschließend werden die besonderen Merkmale und Entwicklungen der Computernetze in Bezug auf Musik dargestellt sowie die Entwicklung der Netzkultur nachgezeichnet und deren zentrale Gruppierungen charakterisiert (Kapitel 3). Im dritten Teil werden die beiden Argumentationslinien zusammengebracht, indem die strukturellen Gemeinsamkeiten und Konflikte der beiden Wertsysteme untersucht werden. Schließlich wird auf dieser Darstellung aufbauend erörtert, wie sich die beschriebenen technologischen, kulturellen und ökonomischen Tendenzen für die Independent Labels auswirken (Kapitel 4).
[1] Vgl. Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft e.V., Deutsche Landesgruppe der IFPI e.V., Deutsche Phonoakademie e.V. (im folgenden: BV Phono) (2003a): Phonographische Wirtschaft. Jahrbuch 2003. Starnberg. S.54 [2] International Federation of the Phonographic Industry (im folgenden: IFPI) (2004a): Global music sales fall by 7.6% in 2003 some positive signs in 2004. 7.4.2004. http://www.ifpi.com/site-content/statistics/worldsales.html [2004-04-18] [3] Vgl. BV Phono (2004a): Jahreswirtschaftsbericht 2003. Starnberg. S.7 [4] Von den 714 Millionen gebrannten Rohlingen wurden laut der Brennerstudie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) 44% mit Musik bespielt. Vgl. Gesellschaft für Konsumforschung (im folgenden: GfK) (2004): Brennerstudie 2004. 30.3.2004. http://www.ifpi.de/news/379/brennerstudie2004.pdf [2004-04-22] S.7 [5] Vgl. BV Phono (2004a), S.16ff. [6] IFPI (2003): IFPI releases comprehensive yearbook on the global market for recorded music. 9.9.2003. http://www.ifpi.org/site-content/press/20030909.html [2004-02-09] |